Die Pancasila als Fundament der indonesischen Verfassung

  1. Einleitung
  2. Die Rede
  3. Persatuan Indonesia – Nationale Einheit
  4. Internasionalisme – Internationalismus
  5. Mufakat – Einigkeit
  6. Keadilan sosial – Soziale Gerechtigkeit
  7. Ketuhanan yang Maha Esa – Das Prinzip des All-Einen
  8. Pancasila – Die 5 Prinzipien
  9. Fazit

Literatur

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1. Einleitung

Das Gebiet des heutigen Indonesiens besteht aus einer vielgestaltigen Inselwelt, die von den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen geformt wurde. So findet man beispielsweise ganz im Westen Sumatras strenggläubigen Muslime in Aceh, moderne Großstadtmenschen in Jakarta auf Java, hinduistische Priester auf Bali, und Jäger und Sammler in den Wäldern Neu Guineas. Dass alle vereint in einem Staat leben, hängt mit der Kolonialgeschichte zusammen.

Die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) handelte bereits seit dem 17. Jahrhundert in Südostasien, weitete dort ihren Einfluss nach und nach aus und gründete Stützpunkte. 1799 wurde die VOC zwar aufgelöst, doch die Strukturen in Südostasien bestanden weiter und nach einer kurzen Übergangsphase konnten die Niederländer ein Kolonialreich errichten: Niederländisch-Indien. Es dauerte allerdings bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis alle Kleinstaaten der Region unterworfen waren. Bei der Ausweitung des Gebietes spielten die kulturellen Grenzen keine Rolle, der Profit stand im Vordergrund.

Im 2. Weltkrieg wurden die Niederländer vom Deutschen Reich besetzt und waren nicht in der Lage, ihre Kolonie in Südostasien vor den Japanern zu verteidigen. Diese übernahmen die Kontrolle im März 1942. Auch wenn sie nicht die erhofften Befreier waren, genehmigten sie den Indonesiern mehr Freiheiten als die Niederländer. So durfte ein einheimisches Heer aufgestellt werden. Es wurden sogar Schritte veranlasst, Indonesien in die Unabhängigkeit zu entlassen. Wahrscheinlich stand dahinter ein Selbstzweck für die Japaner, da man dadurch einen Verbündeten gewonnen hätte.

Ende Mai 1945 wurde ein Untersuchungsausschuss zur Vorbereitung der Unabhängigkeit eingesetzt. Bei dieser Gelegenheit hielt Sukarno am 1. Juni die vielbeachtete Pancasila-Rede, die in dieser Hausarbeit untersucht wird. Für die Japaner wurde die Entwicklung in Indonesien schnell zweitrangig. Durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki wurden sie zur bedingungslosen Kapitulation am 15. August 1945 getrieben.

Bereits zwei Tage später wurde von Sukarno und Hatta die Unabhängigkeit ausgerufen. Sukarno wurde zum 1. Präsident des neuen Staates.

2. Die Rede

Sukarno führte in der Rede die Pancasila als Grundlage einer zukünftigen Verfassung ein. Durch die Historie des Landes stand er vor der Herausforderung alle Ethnien und Kulturen ausreichend zu berücksichtigen, ohne seine Machtbasis bei der muslimischen Mehrheitsgesellschaft zu verlieren.

Daher stellt Sukarno die Pancasila breit auf. Er sieht insgesamt fünf Säulen, die das Fundament des neuen Staates bilden sollen:

  1. Die nationale Einheit
  2. Der Internationalismus
  3. Die Einigkeit
  4. Die soziale Gerechtigkeit
  5. Das Prinzip des All-Einen

Hier ist der Islam gleich auf zwei Weisen ausgebremst worden. Zum einen ist der Glaube an den einen Gott nur eines der fünf Prinzipen und zum anderen ist nicht explizit der Islam als Staatsreligion gesetzt worden, sondern alle monotheistischen Glaubensrichtungen.

Daher ist es nachvollziehbar, wenn Karel Steenbrink in den Pancasila ein Instrument sieht, das den Islam in das gesellschaftliche Gefüge einordnet und die Muslime im Land „zähmen“ soll.

Sukarno muss dennoch die Gefühle der religiösen Menschen berücksichtigen. Das macht er, auf einer persönlichen Ebene. Er selbst bekennt sich zum Islam und verlangt auch von seinen Bürgern, die Religion ernst zu nehmen.

Die Auswahl der Pancasila wird historisch und philosophisch hergeleitet. Dabei greift er viele Ideen und Ereignisse aus dem Westen auf. Sukarno bemüht sich anschließend, diese in den indonesischen Kontext einzuordnen, gerne unter Zuhilfenahme alte javanischer Traditionen.

Ein einfacher Bürger würde Schwierigkeiten haben, die Rede Sukarnos zu verstehen. Er nutzt philosophische Fachtermini und zitiert Denker in ihren Muttersprachen. Der Text ist gespickt mit Wörtern aus fremden Sprachen, wie Deutsch, Niederländisch, Französisch und Englisch.

Hier wirkt es ambivalent, wenn neben dieser hochgestochenen Ideenwelt immer wieder sehr einfache Gedankengänge auftauchen, beispielsweise wenn Sukarno behauptet, dass ein Kind die Einheit Indonesiens auf der Karte sehen könne. 

3. Persatuan Indonesia – Nationale Einheit

Sukarno stellt den Nationalismus als zentrales Anliegen gleich zu Beginn seiner Ausführungen der fünf Prinzipien des unabhängigen Indonesiens vor. Nicht nur das, er ordnet seine Wichtigkeit – aus Sicht des Staates – über den Islam ein:

„Sayapun orang Islam. Tetapi saya minta kepada saudara- saudara, janganlah saudara-saudara salah faham jikalau saya katakan bahwa dasar pertama buat Indonesia ialah dasar kebangsaan.“

Während es im Inselstaat mehrere Religionen gibt, die nur mittels geschickten Kunstgriffs vereint werden können, kann Sukarno mit dem Prinzip des Nationalstaats eine umfassendere Idee der Gemeinsamkeit vermitteln. Wie erfolgreich dieses Vorgehen ist, haben seit dem 19. Jahrhundert viele Länder, zuerst in Europa, später auch in anderen Teilen der Welt, gezeigt.

Das Objekt des Nationalismus ist die Nation. Der Begriff der Nation ist nicht eindeutig bestimmt. Nationalstaaten können höchst unterschiedlich organisiert sein und auf verschiedenen Grundlagen fußen.

Was ist also die Nation, die Sukarno vorschwebt?

Er führt in der Rede zunächst zwei Definition an. Nach Ernest Renan entstammt eine Nation einer Gruppe von Leuten, die den Wunsch hat sich zu vereinen. Nach Otto Bauer ist eine Nation eine aus einer Schicksalsgemeinschaft gewachsene Charaktergemeinschaft. Beide Ansätze hält Sukarno für unzureichend und veraltet.

Für ihn kann die Nation nicht unabhängig von der Geografie verstanden werden:

“Allah s.w.t membuat peta dunia, menyusun peta dunia. Kalau kita melihat peta dunia, kita dapat menunjukkan dimana ‘kesatuan-kesatuan’ disitu. Seorang anak kecilpun, jukalau ia melihat peta dunia, ia dapat menunjukkan bahwa kepulauan Indonesia merupakan satu kesatuan. Pada peta itu dapat ditunjukkan satu kesatuan gerombolan pulau-pulau diantara 2 lautan yang besar, lautan Pacific dan lautan Hindia, dan diantara 2 benua, yaitu benua Asia dan benua Australia. Seorang anak kecil dapat mengatakan, bahwa pulau-pulau Jawa, Sumatera, Borneo, Selebes, Halmaheira, Kepulauan Sunda Kecil, Maluku, dan lainlain pulau kecil diantaranya, adalah satu kesatuan.”

Er wendet dieses Vorgehen nicht nur auf Indonesien an, sondern auch auf die anderen Nationalstaaten, wie Indien, Großbritannien und Griechenland.

Bemerkenswert ist, dass Sukarno behauptet, dass diese Tatsache so offensichtlich ist, dass sogar kleine Kinder sie erkennen würden. Mit diesem rhetorischen Trick möchte er vielleicht weitere Diskussionen zu dem Punkt umgehen, da ein zu genauer Blick auf die Weltkarte mit ihren Nationalstaaten seine These ins Wanken bringen könnte. Die Nationalstaaten bilden sich völlig unterschiedlich aus. Einige Grenzen werden durch Berge, Flüsse und Meere gebildet, andere durch sprachliche und kulturelle Unterschiede, wiederum andere allein aufgrund zufälliger historischer Ereignisse.

Die moderne Forschung ist sich beim Nationsbegriff noch immer nicht einige. Es gibt unterschiedliche Versuche den Begriff treffend zu erfassen. Der erste Ansatz folgt Renan und betont das Subjekt: die Nation wird durch „innere und freiwillige Überzeugung“ ihrer Mitglieder gebildet.

Dem entgegengesetzt steht der objektive Ansatz, der feste Entitäten sieht, die außerhalb des Individuums stehen. Das können Sprache, Kultur, Tradition und Geschichte sein. Oder wie bei Soekarno das Territorium.

In den 1980er Jahren wurde eine radikale Form des subjektiven Ansatzes entwickelt, die heute vorherrscht. Denker, wie Rainer Lepsius und Eric Hobsbawm sehen in Nationen gedachte Ordnungen. Es gib weder objektive Elemente noch die Überzeugung oder Einwilligung ihrer Mitglieder.

Daneben gibt es noch Zwischenpositionen, beispielsweise geht Anthondy D. Smith davon aus, dass es mit der ethnischen Herkunft einen realen Kern der Nation gäbe.

Auch wenn Sukarnos objektiver Ansatz in der dargebrachten Form wissenschaftlich nicht haltbar ist, könnte er dennoch im Alltag ausreichend plausibel sein, um als Grundlage des Staates dienen zu können. In einem anderen Punkt ist die Forschung sich mit ihm einig: der Nationalismus birgt Gefahren in sich. Ulrich Wehler spricht von einem Janusgesicht. Die Idee einer homogenen Nation führt zu dem Ausschluss von Menschen, die nicht dazugehören.

Sukarno sieht vor allem die Gefahr, die chauvinistische Nationen für ihre Nachbarn bedeuten könnten. Er möchte einen sanften Nationalismus, der sich in eine Weltgemeinschaft eingliedert. Als Zeugen für die Möglichkeit dieses Vorhabens beruft er sich auf Gandhi:

„Gandhi berkata: ‘Saya seorang nasionalis, tetapi kebangsaan saya adalah perikemanusiaan. My nationalism is humanity’. Kebangsaan yang kita anjurkan bukan kebangsaan yang menyendiri, bukan chauvinisme, sebagai dikobar-kobarkan orang di Eropah, yang mengatakan „Deutschland uber alles”, tidak ada yang setinggi Jermania, yang katanya, bangsanya minulyo, berambut jagung dan bermata biru, ‚bangsa Aria‘, yang dianggapnya tertinggi diatas dunia, sedang bangsa lain-lain tidak ada harganya. Jangan kita berdiri di atas azas demikian, Tuan-tuan, jangan berkata, bahwa bangsa Indonesialah yang terbagus dan termulya, serta meremehkan bangsa lain. Kita harus menuju persatuan dunia, persaudaraan dunia. Kita bukan saja harus mendirikan negara Indonesia Merdeka, tetapi kita harus menuju pula kepada kekeluargaan bangsa-bangsa.“

Das Anliegen ist verständlich. Sukarno hielt die Rede im Jahr 1945. Er kannte den Aufstieg der europäischen Nationalstaaten, sah aber auch die Katastrophe, die durch das Hitler-Regime in Deutschland heraufbeschworen wurde.

Auch in Asien war aggressiver Nationalismus bekannt. Beispielsweise in Thailand unter der Herrschaft von Phibun Songkhram (1897-1964). In seiner Amtszeit verfolgte er eine ultranationalistische Agenda, die von Glorifizierung der Vergangenheit, Bildung paramilitärischer Jugendorganisationen, Paraden und Expansionsankündigungen an die Nachbarländer gekennzeichnet war.

Trotz dieser Gefahren setzte Sukarno auf den Nationalismus. Durch ihn war es möglich, eine einende Grundlage für den Inselstaat zu schaffen.

4. Internasionalisme – Internationalismus

Um die indonesische Nation friedlich in die Weltgemeinschaft einzuordnen, wird auch der Internationalismus zu einen der fünf Pfeiler der Verfassung von Sukarno ausgerufen.

Er grenzt den Begriff sofort vom Kosmopolitismus ab und unterstreicht mit einer im wahrsten Sinne des Wortes blumigen Anekdote, dass Internationalismus und Nationalismus sich gegenseitig bedürfen:

„Inilah filosofisch principe yang nomor dua, yang saya usulkan kepada Tuan-tuan, yang boleh saya namakan „internasionalime”. Tetapi jikalau saya katakan internasionalisme, bukanlah saya bermaksud kosmopolitisme, yang tidak mau adanya kebangsaan, yang mengatakan tidak ada Indonesia, tidak ada Nippon, tidak ada Birma, tidak ada Inggris, tidak ada Amerika, dan lain-lainnya. Internasionalisme tidak dapat hidup subur, kalau tidak berakar di dalam buminya nasionalisme. Nasionalisme tidak dapat hidup subur, kalau tidak hidup dalam tamansarinya internasionalisme.”

Internationalismus kommt aus dem Lateinischen. „Natio“ ist mit „Volksgemeinschaft“ übersetzbar und „inter“ bedeutet „zwischen“. Das heißt, der Begriff setzt ein Vorhandensein von kleineren Einheiten, wie Nationen, voraus. Kosmopolitismus setzt sich hingegen aus den altgriechischen Wörtern „κόσμος“ für „Welt“ und „πολίτης“ für Bürger zusammen. Hier ist die nationale Einheit nicht mehr relevant: der Kosmopolit begreift sich losgelöst von regionalen Begebenheiten. Seine Heimat ist die Welt, doch das kann als besondere Form der Heimatlosigkeit verstanden werden.

Auf der einen Seite stärkt Sukarno mit dieser strikten Abgrenzung den indonesischen Nationalismus. Auf der anderen Seite ist es auch eine Einordnung seiner Sicht auf den Marxismus. Im Frühwerk von Marx gibt es durchaus kosmopolitische Untertöne, beispielsweise wird im Kommunistischen Manifest noch zu einer Vereinigung der Proletarier ohne Vaterland aufgerufen. Genauso wenig Erfolg wie in Europa, wo die Antinationalisten eine kleine Minderheit blieben, hatte diese Idee in Indonesien.

5. Mufakat – Einigkeit

Das Prinzip der Einigkeit ist wichtig für den inneren Zusammenhalt. Indonesien ist ein Staat mit vielen unterschiedlichen Gruppierungen und dementsprechend unterschiedlichen Interessen. Ein Zusammenleben geht nur über ein gegenseitig faires Verhalten. Keine Gruppe soll von vornherein einen besseren Stand haben. Daher schlägt Sukarno ein Prinzip der Repräsentation vor, dass auf Beratung basiert:

„Dasar itu ialah dasar mufakat, dasar perwakilan, dasar permusyawaratan. Negara Indonesia bukan satu negara untuk satu orang, bukan satu negara untuk satu golongan, walaupun golongan kaya. Tetapi kita mendirikan negara ‘semua buat semua’, ‘satu buat semua, semua buat satu’. Saya yakin syarat yang mutlakuntukkuatnya negarra Indonesia ialah permusya waratan perwakilan.”

Im nachfolgenden Teil der Rede wendet sich Sukarno vor allem den Muslimen zu. Er selbst gehört wie die Mehrheit der Einwohner dem Islam an, doch dennoch möchte er nicht von vornherein eine Religion bevorzugen. Einen fairen Umgang schuldet man den Mitbürgern anderer Konfessionen, wie den Christen.

Dennoch haben Muslime die Chance, ihren Glauben in die Politik zu tragen. Sie haben die Mehrheit im Lande und wenn sie ihre Religion ernst nehmen und sich politisch für sie einsetzen, sollten sie in der Lage sein, ihre Interessen voranzubringen.

Vielleicht um der Klage nicht religiös genug zu handeln zuvor zu kommen, beklagt Sukarno selbst, dass der Islam nicht intensiv genug in der Bevölkerung gelebt wird. Das könnte man so interpretieren: Wer den Staat auf einen religiöseren Weg führen möchte, sollte sich nicht beklagen, sondern zuerst an sich selbst arbeiten und seine Nächsten auf den rechten Pfad bringen und dann für seine Überzeugungen einstehen.

Den Kampf unterschiedlicher Überzeugungen sieht Sukarno auch in anderen Staaten, in christlichen als auch in islamischen. Er sieht darin sogar etwas Gutes, da der Staat dadurch lebendig wird. Mit einer Analogie aus der indonesischen Vorstellungswelt unterstreicht er den positiven Aspekt dieses Kampfes. Es sei dem Candradimuka ähnlich, dem aus Wayang-Geschichten bekannten Ort, an dem der mythische Held Ghatotkacha seine außergewöhnlichen Fähigkeiten gewann, die ihn immun gegen Waffen machten und fliegen können ließ. Candradimuka kann als ein Trainingszentrum verstanden werden, das Personen auf eine neue Ebene steigen lässt.

6. Keadilan sosial – Soziale Gerechtigkeit

Sukarno sieht die Notwendigkeit, die soziale Gerechtigkeit zu einem der fünf zentralen Prinzipien der Verfassung auszurufen. Er begründet dies mit einem Blick in die westliche Welt, in der viele Staaten über funktionierende parlamentarische Demokratien verfügen, die aber dennoch nicht in der Lage waren, eine allgemeine Wohlfahrt aufzubauen. Die einfachen Menschen hängen dort von der Gnade der Kapitalisten ab:

„Kita sudah lihat, di negara-negara Eropah adalah Badan Perwakilan, adalah parlementaire democracy. Tetapi tidakkah di Eropah justru kaum kapitalis merajalela? Di Amerika ada suatu badan perwakilan rakyat, dan tidakkah di Amerika kaum kapitalis merajalela? Tidakkah di seluruh benua Barat kaum kapitalis merajalela?“

Sukarno hielt die Rede im Jahr 1945. Davor waren die Weltkriege, die den Kontinent in einer Ausnahmesituation hielten. Schaut man weiter zurück in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, dann wirkt die Vorsicht des Indonesiers verständlich. Der französische Ökonom Thomas Piketty führt Europa im Jahre 1910 als eine Region mit einer hohen Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Während die oberen 10% die Hälfte des Einkommens verbuchten, erhielten die unteren 50% gerade ein Zehntel. Ausgedrückt im Gini-Koeffizienten bedeutet das einen Wert von 0,49. In der heutigen Welt würde das eine außergewöhnlich hohe Ungleichheit darstellen, die im weltweiten Vergleich einen Platz in den unteren Rängen bedeuten würde, zwischen Panama und Zimbabwe. Beim Vermögen klaffte die Schere noch weiter. Beispielsweise in Frankreich der Belle Époque zwischen 1880 und 1914 erreichte die Ungleichheit Höhen, die die der 1780er-Jahre übertrafen, also der Vorphase der Französischen Revolution.

Die Gründe dafür waren im Verhalten der Staaten zu finden. Die Zeit in Europa vor den Kriegen zeichnete sich durch einen tiefgreifenden Wandel der Industrie aus. Auf der einen Seite ermöglichte die neue Technik größeren Wohlstand, auf der anderen Seite gab es vor allem in den Städten eine starke soziale Ungleichheit und Armut. In dieser Zeit verzichteten die Regierungen auf harte Eingriffe in das soziale Gefüge. Steuernde Mittel, wie Lohn- und Steuerpolitik, Bildungspolitik und soziale Absicherung, waren zwar bekannt, wurden aber wenig eingesetzt.

Solche Zustände bieten ein gehöriges Potential an gesellschaftlicher Sprengkraft. In Europa entstanden die unterschiedlichsten sozialen und politischen Bewegungen mit teils radikalen Ideen.

Sukarno sieht vor allem die individuelle Problematik des westlichen Kapitalismus. Dazu verweist er auf den Historiker und sozialistischen Politiker Jean Jaurès:

„Saya ingat akan kalimat seorang pemimpin Perancis, Jean Jaures, yang menggambarkan politieke democratie. ‚Di dalam Parlementaire Democratie, kata Jean Jaures, di dalam Parlementaire Democratie, tiap-tiap orang mempunyai hak sama. Hak politiek yang sama, tiap orang boleh memilih, tiap-tiap orang boleh masuk di dalam parlement. Tetapi adakah Sociale rechtvaardigheid, adakah kenyataan kesejahteraan di kalangan rakyat?‘ Maka oleh karena itu Jean Jaures berkata lagi: ‚Wakil kaum buruh yang mempunyai hak politiek itu, di dalam Parlement dapat menjatuhkan minister. Ia seperti Raja! Tetapi di dalam dia punya tempat bekerja, di dalam paberik, – sekarang ia menjatuhkan minister, besok dia dapat dilempar keluar ke jalan raya, dibikin werkloos, tidak dapat makan suatu apa‘.“

Mit diesem Punkt deckt Sukarno einen Widerspruch der modernen Demokratie auf, der bis heute besteht. Jeder Bürger hat zwar politische und gesellschaftliche Freiheiten, doch im Bereich der Arbeit leiden viele an einer doppelten Unfreiheit. Sie sind dem Unternehmer bis zu einem gewissen Maß ausgeliefert und wenn sie über wenig finanzielle Mittel verfügen, sind sie nicht in der Lage, die anderen Freiheiten ausleben zu können.

Daher wendet er sich gegen eine Übernahme des politischen Systems aus dem Westen und schlägt einen eigenen Weg vor: ein Konzept namens Ratu Adil. Ratu Adil ist eine Figur der javanischen Mythologie, die für Frieden und Gerechtigkeit steht.

Sukarno verbindet mit ihr eine soziale Vision:

„Yang dimakksud dengan faham Ratu Adil, ialah sociale rechtvaardigheid. Rakyat ingin sejahtera. Rakyat yang tadinya merasa dirinya kurang makan kurang pakaian, menciptakan dunia-baru yang di dalamnya a d a keadilan di bawah pimpinan Ratu Adil.“

7. Ketuhanan yang Maha Esa – Das Prinzip des All-Einen

Als letztes wendet sich Sukarno dem Thema Religion zu. Auch in diesem Punkt berücksichtigt er die Bedürfnisse aller Einwohner des Landes und verzichtet darauf, den Islam hervor zu heben:

„Prinsip yang kelima hendaknya: Menyusun Indonesia Merdeka dengan bertakwa kepada Tuhan yang Maha Esa. Prinsip Ketuhanan! Bukan saja bangsa Indonesia bertuhan, tetapi masing-masing orang Indonesia hendaknya bertuhan Tuhannya sendiri. Yang Kristen menyembah Tuhan menurut petunjuk Isa al Masih, yang Islam bertuhan menurut petunjuk Nabi Muhammad s.a.w., orang Buddha menjalankan ibadatnya menurut kitab-kitab yang ada padanya. Tetapi marilah kita semuanya ber-Tuhan. Hendaknya negara Indonesia ialah negara yang tiap-tiap orangnya dapat menyembah Tuhannya dengan cara yang leluasa. Segenap rakyat hendaknya ber-Tuhan secara kebudayaan, yakni dengan tiada ‘egoisme-agama’.”

Sukarno fordert, dass alle Indonesier an Gott glauben, an ihren Gott. Explizit nennt er Christen, die dem Wort Jesus Christus folgen sollen, Moslems, die den Worten des Propheten Mohammed nacheifern sollen und Buddhisten, die gemäß den heiligen Schriften ihres Glaubens leben sollen.

Wie zu Zeiten der Rede die genaue Verteilung auf die Religionen aussah, ist schwer abzuschätzen. Beim Zensus von 1930 war das Land noch unter kolonialer Herrschaft und beim nachfolgenden Zensus im Jahre 1961 wurde die Religion nicht erfasst. Daten von 1969 zeigen, dass die Muslime in der absoluten Mehrheit waren. Insgesamt 87,1% der Indonesier gehörten dem Islam an. Die Christen waren die zweitstärkste Religion mit insgesamt 7,7%. Davon entfielen 5,2% auf Protestanten und 2,5% auf Katholiken. 2% waren Hindus und 1,1% Buddhisten. Die verbleibenden Prozente waren weitere Religionen.

Auffällig ist, dass in der Rede Sukarnos die Hinduisten nicht erwähnt wurden. Dabei ist diese Glaubensrichtung bereits seit vielen Jahrhunderten in Indonesien etabliert. Auf Bali ist es die wichtigste Religion und bestimmt noch immer die Kultur.

Hier sei darauf hingewiesen, dass Sukarno von „Tuhan yang Maha Esa“ spricht. Der Hinduismus kennt allerdings eine Vielzahl von Göttern und fällt damit nicht darunter. Sukarno hatte zwar eine gewisse Verbindung zur hinduistischen Kultur, da seine Mutter Balinesin war, doch verzichtete er darauf, bei der Unabhängigkeitsrede für böses Blut in der Mehrheitsgesellschaft zu sorgen. Für viele Anhänger der monotheistischen Religionen war Vielgötterei eine Sünde.

Erst viele Jahre später gelang es den Hinduisten, mit Unterstützung von Sukarno, eine gleichgestellte Position zu erreichen. 1959 wurden sie offiziell als Religion in Indonesien akzeptiert. Da das Prinzip des Großen Einen nicht gelockert werden sollte, wurde die hinduistische Glaubensauffassung kreativ interpretiert: die unterschiedlichen hinduistischen Gottheiten wurden nun als verschiedene Aspekte des einen Gottes aufgefasst.

8. Pancasila – Die 5 Prinzipien

Im abschließenden Teil der Rede zu den Pancasila führt Sukarno den Begriff selbst ein. Er überlegt, wie eine sinnvolle Benennung wäre:

„Panca Dharma? Bukan! Nama Panca Dharma tidak tepat disini. Dharma berarti kewajiban, sedang kita membicarakan dasar. Saya senang kepada simbolik. Simbolik angka pula. Rukun Islam lima jumlahnya. Jari kita lima setangan. Kita mempunyai Panca Inderia. Apa lagi yang lima bilangannya? (Seorang yang hadir: Pendawa lima). Pendawapun lima oranya. Sekarang banyaknya prinsip; kebangsaan, internasionalisme, mufakat, kesejahteraan dan ketuhanan, lima pula bilangannya. Namanya bukan Panca Dharma, tetapi – saya namakan ini dengan petunjuk seorang teman kita ahli bahasa namanya ialah Pancasila.“

Den Dharma-Begriff lehnt Sukarno ab, da er „Dharma“ mit „Pflicht“ („kewajiban“) übersetzt und das für ihn der falsche Ausdruck ist. Da der Begriff aus der hinduistischen und buddhistischen Welt stammt, schwingt ein religiöser Unterton mit ihm. Auch aus diesem Grund könnte die Wahl einer anderen Bezeichnung für die Prinzipien sinnvoll sein, da ansonsten die Gefahr bestünde, dass negative Gefühle in der monotheistischen Bevölkerung ausgelöst werden könnten. Mit „sila“ das für „Prinzipien“ steht, scheint ein besserer Begriff gefunden zu sein.

Sukarno erwähnt seine Vorliebe für Symbolik und unterbreitet gleich das Angebot, die 5 positiv einordnen zu können. Er erwähnt dazu die 5 Säulen des Islams, die 5 Sinne, die 5 Finger und die 5 Pandavas, die über das Epos Mahabharata den Einzug in die indonesische Kultur gefunden haben.

 Für Leute, deren Lieblingszahl die 3 ist, bricht Sukarno die 5 Prinzipien auf 3 herunter, die „trisila“: Sozialnationalismus, Sozialdemokratie und Gott („socia-nationalisme, socio-demokratie, dan ketuhunan“).

Schließlich geht Sukarno noch einen Schritt weiter und versucht die 5 Prinzipien mit einem genuin indonesischen Begriff auszudrücken: „Gotong Royong“.

„‘Gotong Royong‘ adalah faham yang dinamis, lebih dinamis dari ‚kekeluargaan‘, saudara-saudara! Kekeluargaan adalah satu faham yang statis, tetapi gotong-royong menggambarkan satu usaha, satu amal, satu pekerjaan, yang dinamakan anggota yang terhormat Soekardjo satu karyo, satu gawe. Marilah kita menyelesaikan karyo, gawe, pekerjaan, amal ini, Bersama-sama! Gotong-royong adalah pembantingan-tulang bersama, pemerasan-keringat bersama, perjoangan bantu-binantu bersama. Amal semua buat kepentingan semua, keringat semua buat kebahagiaan semua. Ho-lopis-kuntul-baris buat kepentingan bersama! Itulah Gotong Royong!”

Nach diesen Worten kam es zu einem stürmischen Applaus. Sukarno hat mit dieser Verdichtung noch einmal das Gemeinsame unterstrichen. Der Begriff ist der traditionellen javanischen Lebenswelt entlehnt und bezeichnet die gemeinsame, wechselseitige Hilfe in einer Dorfgemeinschaft. Dahinter steckt die Vorstellung von einer relativ egalitären Gesellschaft, die sich gegenseitig beisteht und unterstützt.

Sukarno möchte alle Gruppen zu einer großen Gemeinschaft vereinen. Das versucht er nicht nur durch den Inhalt seiner Rede direkt zu vermitteln, sondern auch indirekt durch sprachliche Mittel, indem er den Begriff der „Arbeit“ in mehreren unterschiedlichen Sprachen des Landes aufführt („pekerjaan“, „gawe“, „karyo“). Das soll zeigen, dass alle Sprachgruppen, bzw. Ethnien gemeint sind.

Im Anschluss weitet er den Ansatz auf weitere Identitäten aus: ob reich oder arm, ob Muslim oder Christ, ob gebürtiger Indonesier oder Zugewanderter – sie alle sollen zusammenhalten und zusammenarbeiten.

9. Fazit

Die Rede Sukarnos stoß bei einigen Muslimen auf Widerstand, da die Rolle des Islams in den künftigen Planungen ihnen nicht wichtig genug erschien.

Einige Tage nach der Rede, am 22. Juni 1945, trat ein neunköpfiges Planungskomitee für die Zeit nach der Unabhängigkeit zusammen. Sie akzeptierten grundsätzlich die Pancasila, wünschten doch einige Änderungen. Zum einen sollte das Prinzip des All-Einen an erster Stelle geführt werden, um auf die Wichtigkeit hinzuweisen. Und zum anderen sollten dort folgende Worte angefügt werden: „dengan kewajiban menjalankan syariat Islam bagi pemeluk-pemeluknya”. Damit sollten die Anhänger einer islamischen Staatsverfassung zufrieden gestellt werden.

Auch wenn durch diese Formel die Christen zu nichts verpflichtet wurden, fühlten sie sich dadurch diskriminiert. Denn damit würde das Prinzip der Gleichbehandlung aller Indonesier aufgegeben und in der Verfassung würde damit ihr Status als „Andere“ deutlich.

Doch die Mitglieder im Komitee der Neun verständigten sich schließlich nach einem privaten Meeting am 18. August darauf, die umstrittene Formel zu streichen.

In den 1970er-Jahren entstand die Idee der „civil religion“ in den USA. Darunter wurde eine Sammlung von Doktrinen und Ritualen in einer Gesellschaft verstanden. Unter diesem Begriff fällt nicht nur die amerikanische Ideologie, sondern auch der Shintoismus in Japan, wie auch die Pancasila in Indonesien.

Hat Sukarno sein Ziel mit den Pancasila langfristig erreicht? Diese Frage hat zu viele unterschiedliche Dimensionen, um sie in dieser Hausarbeit beantworten zu können. Indonesien hat es geschafft, das Gebiet Niederländisch-Indiens für ein Dreiviertel Jahrhundert zusammen zu halten. Allerdings gab es in dieser Zeit eine Reihe blutiger Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen aufgrund der unterschiedlichsten Motive. Einige Gewalttaten hatten einen ideologischen Hintergrund, andere einen religiösen, wieder andere wurden durch Besitzansprüche getrieben.

Die Pancasila haben alle diese Ereignisse überlebt und sind von ihrer Ausrichtung durchaus modern. Bis auf das Prinzip des All-Einen findet man die Grundsätze in unterschiedlicher Ausprägung auch in vielen Verfassungen der westlichen Staaten.

Die Aufnahme des religiösen Prinzips in die indonesische Verfassung hat nicht den Weg in einen Gottesstaat geebnet. Die meisten Einwohner des Landes wünschen keine Islamisierung des Staates. Das könnte ein Indiz sein, dass Sukarno tatsächlich erfolgreich war und ihm die Einordnung der Religion in das Staatsgefüge glückte.

Literatur

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Online-Ressourcen

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https://www.kompasiana.com/parlin_nainggolan/

 

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