Der Niedergang der indischen Textilindustrie

Der Politiker und Schriftsteller Shashi Tharoor steht für viele Inder, wenn er die britischen Kolonialherren mit in die Verantwortung nimmt. Für ihn baut der Erfolg der Industriellen Revolution im Vereinten Königreich auf der Zerstörung der indischen Textilindustrie auf. Die Zahlen scheinen offensichtlich: im frühen 18 Jahrhundert hatten die indischen Produkte einen Anteil von 25 Prozent am Welthandel. Während der Kolonialzeit fiel dieser Wert auf 2 Prozent und Indien wurde durch die vielen europäischen Waren zu einen Netto-Importeur von Kleidung.

Diese Sichtweise hat eine lange Tradition. Schon Karl Marx erhob in seiner Schrift „Die britische Herrschaft in Indien“ den Vorwurf:

„Es war der britische Eindringling, der den indischen Handwebstuhl zerstörte und das Spinnrad zerbrach. England begann damit, dass es den indischen Kattun vom europäischen Markt verdrängte; dann führte es Maschinengarn nach Hindustan ein und überschwemmte schließlich das eigentliche Mutterland des Kattuns mit Kattunwaren.“

Doch diese eindeutige Schuldzuweisung wird von einigen modernen Historikern nicht geteilt. Tirthankar Roy weist daraufhin, dass der relative Niedergang nach prozentualen Anteilen am Welthandel nichts darüber aussagt, ob Indien einst reich war und nun arm ist. Es zeigt nur, dass die Produktivität im Westen sich vervielfacht hat. Er vermutet, dass das Narrativ der kolonialen Ausplünderungen attraktiv für die Medien sei, allerdings würde dabei eine falsche Logik angewandt und die vorhandenen Daten würden voreingenommen interpretiert.

Um die Frage nach den Gründen des Niedergangs beantworten zu können, möchte ich zunächst die Situation der indischen Textilindustrie vor dem Eintreffen der Briten untersuchen. Um Stärken und Schwächen im Herstellungsprozess zu erkenne, werden einzelne Teilbereiche der Kleiderherstellung betrachtet. Anschließend wird auf den Handel eingegangen, um einen Überblick über den Absatzmarkt der indischen Waren zu bekommen.

Es folgt ein kurzer Abriss der indischen Geschichte, der den Übergang vom Mogulreich zur Kolonialherrschaft und schließlich zum unabhängigen Staat aufzeigt.

Anschließend wird analysiert, welche Probleme die indische Textilindustrie in der Kolonialzeit hatte. Hier soll zunächst die gesamtwirtschaftliche Lage dargestellt werden, um den allgemeinen Trend zu erfassen und anschließend wird wieder auf die einzelnen Teilbereiche der Textilproduktion eingegangen.

Die indische Textilindustrie in der vorkolonialen Zeit

Produktion

Die Textilherstellung war in Bezug auf Produktdifferenzierung, regionale Spezialisation und komplexen Produktionstechniken das am weitesten entwickelte Handwerk in Indien in der vorkolonialen Zeit.

Doch diese Aspekte garantieren keine stabile Industrie. Die Stärken und Schwächen der Textilbranche können nur durch einen Blick auf das Detail freigelegt werden. Dazu müssen die unterschiedlichen Teilnehmer des Produktionsprozesses betrachtet werden. Nicht nur ihre Funktion in der Industrie ist entscheidend, sondern auch ihre soziale und wirtschaftliche Lage. Langfristig können Industrien nur überleben, wenn sie genügend Geld generieren können, um den Beteiligten den Lebensunterhalt zu sichern.

Folgt man den Berichten der europäischen Reisenden aus dem 15. Jahrhundert, so scheinen die Arbeiter in Indien verarmt gewesen zu sein. Sie berichteten von ärmlich gekleideten und unterernährten Menschen. Doch diese Beschreibungen sollten nicht zu vorschnellen Urteilen verleiten. Der Historiker Parthasarathi sieht dahinter eine vorübergehende Armut und verweist auf Forschung, die für das 18. Jahrhundert ein relativ gesichertes Auskommen ausmacht.

Um die Situation der Arbeiter erfassen zu können, muss eine differenzierte Betrachtung erfolgen, denn durch Spezialisierung und Arbeitsteilung unterschied sich ihre Situation je nach Region und Tätigkeit. Diese beiden Faktoren hatten einen Einfluss auf den sozialen Status und die Höhe des Einkommens.

Je nach Ort gab es eine Spezialisierung auf bestimmte Zielgruppen, die Einfluss auf die eingesetzten Techniken, die genutzten Rohstoffe und auf die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Arbeiter hatte.

An der südostindischen Koromandelküste saßen die führenden Produzenten von günstigen Textilien, die entweder einfarbig waren oder ein gewebtes Muster besaßen. Oft waren diese Stoffe mit vegetarischen, kräftigen Farben gefärbt.

In Bengalen wurde der Luxussektor abgedeckt. Hier gab es besonders edle Baumwolle, Seide und gemischte Stoffe. Daher waren hier produzierte Stoffe nicht für die lokale Bevölkerung, sondern vor allem für den Fernhandel bestimmt.

Gujarat deckte die ganze Palette ab: von einfachen Textilien bis hin zur Seide.

Die Tätigkeiten bei der Herstellung von Stoffen lässt sich in drei Produktionsphasen aufteilen:

  • die Garnherstellung (Spinnen)
  • das Herstellen von Kleidung (Weben)
  • das Veredeln (Färben, Bemalen, Bedrucken, Verzieren)

Das Spinnen benötigte ein hohes Maß an Geschicklichkeit und wurde zumeist von Frauen unter 30 durchgeführt, denen die größte Fingerfertigkeit zugestanden wurde. Es wurden Spindeln genutzt, die im Vergleich zum Spinnrad ein feineres Garn hervorbrachten.

Das Garn aus dem bengalischen Dhaka hatte den Ruf besonders hochwertig zu sein. Hier wurde die Überlegenheit der Handarbeit gegenüber der maschinellen Produktion sichtbar: es war sowohl feiner als auch haltbarer als das Konkurrenzmaterial.

Die soziale Stellung der Spinnerinnen war schwach. Sie waren nicht organisiert und daher den Marktentwicklungen ausgeliefert. Das galt sowohl beim Einkauf von Werkzeugen und Rohstoffen wie auch beim Verkauf des Garns – sie waren Preisnehmer und konnten, wenn überhaupt, ihre Produktionsmenge anpassen.

Die Weber waren in einer anderen Situation. Hier arbeiteten in erster Linie Männer zusammen im Team. Es wurden bei vielen Techniken mindestens zwei Leute benötigt. Einer webte und der andere kümmerte sich um die anderen Tätigkeiten, wie beispielsweise das Vorbereiten der Fäden.

Der Arbeitsaufwand unterschied sich stark. Gewöhnliche Stoffstücke wurden in einem Zeitraum von 10 bis 60 Tagen hergestellt. Die edelsten Materialien benötigten noch weit länger, bis zu sechs Monate für ein halbes Stück.

Die Arbeitsverhältnisse der Weber veränderten sich mit den verarbeiteten Rohstoffen. In Indien wurde vor allem Baumwolle zur Textilproduktion genutzt, doch in den kühleren Regionen, im Hochland oder im Gebirge, wurde daneben auch Wolle eingesetzt. Die Wolle wurde von Ziegen gewonnen, deren Hirten sowohl das Garn vorbereiten als auch das Weben übernahmen.

Die Mehrheit der Baumwollweber hingegen waren professionelle Weber, die allein mit dieser Tätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienten. Diese Gruppe produzierte eine weite Bandbreite an unterschiedlichen Textilien, die sowohl für den lokalen Markt als auch für den Fernhandel bestimmt waren.

Die Weber gehörten bestimmten Kasten an. Den vier Hauptkasten (Varna) sind in Untergruppen gegliedert, die Jatis genannt werden. Die Weber in Südindien wurden zum Großteil vier Jatis zugeordnet: den kaikolar, devanga, sale und seniyar. Zwischen ihnen gab es kleine Unterschiede. Zwar waren alle hauptsächlich als Weber beschäftigt, doch die kaikolar waren auch Händler und Ackerbauern.

Nicht alle Weber gehörten diesen Kasten an. Eine Ausnahme bildeten die manniwars, die zur untersten gesellschaftlichen Stufe, den Unberührbaren, gehörten. Trotz ihres niedrigen sozialen Status galten ihre Textilien als die besten in Baramahal, einer südindischen Gegend westlich der Koromandelküste.

Die Weber nutzen verschiedene Techniken, um unterschiedliche Stoffe zu erstellen. Beispielsweise wurden mit Gewichtswebstühlen Teppiche hergestellt und mit Zugwebstühlen gemusterte Stoffe. Doch die überwiegende Zahl der Arbeiter in Südindien setzte den Grubenwebstuhl ein. Der Vorteil dieses Gerätes war seine Handlichkeit. Es war leicht und bestand nur aus wenigen Holzstücken. So konnte es leicht zusammen- und auseinandergebaut werden und ermöglichte damit einen mobilen Lebensstil.

Die soziale Ausgangslage der Weber war günstiger als die der Spinnerinnen. Sie arbeiteten in organisierten Verbänden zusammen und konnten Einfluss auf die Preise nehmen. Beispielsweise stieg der Kleidungspreis zwischen 1725 und 1732 aufgrund ihres Drucks um 50 Prozent. Zusätzlich waren sie in der Lage ihre Kosten zu senken, indem sie auf günstigeres Garn wechselten.

Eine wichtige Eigenschaft der Textilien war ihre Farbe. Entweder wurde bereits vor dem Weben das Garn gefärbt oder hinterher Farben aufgemalt oder aufgedruckt.

Im 17. und 18. Jahrhundert konnten Farben noch nicht synthetisch hergestellt werden. In Indien gab es die Expertise auch komplizierte Prozesse zur Farbgewinnung anwenden zu können. Dazu wurden entweder Pflanzen, aber auch Insekten verarbeitet.

Blaue und grüne Farben wurden beispielsweise durch Indigo hergestellt. Da keine günstigeren Alternativen für Blau zu finden waren, wurden damit sowohl Produkte für den lokalen Markt als auch für den Fernhandel gefärbt.

In Farbrezepten aus dem 18. Jahrhundert lässt sich für Purpur und tiefrote Farben der Einsatz von Myrobalanen finden.

Bestimmte Regionen waren für ihre Spezialitäten bekannt. Beispielsweise galt die Chay-Wurzel, die an der nördlichen Koromandelküste wuchs, als die beste Wahl, um rote Farbe zu gewinnen. Die hiermit behandelten Textilien erfreuten sich im Westen eine große Beliebtheit, da die Europäer nicht in der Lage waren, ein ähnliches Rot zu reproduzieren. Dies lag nicht nur an den fehlenden Fertigkeiten, sondern auch an den fehlenden Ressourcen.

Handel

Kleidung und Stoffe decken ein Grundbedürfnis und werden daher überall auf der Welt benötigt. Die Bedingungen zur Herstellung unterscheiden sich von Land zu Land. Nicht überall gibt es Rohstoffe in gleicher Qualität und die technischen Fähigkeiten variieren. Indien konnte in der präkolonialen Phase einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Produzenten erarbeiten. In Südasien konnte sowohl hochwertig als auch günstig produziert werden. Die Fertigkeiten hätten vielleicht Unternehmen in anderen Teilen der Welt auch erwerben können, doch die Preise wären für die meisten unerreichbar gewesen.

Daher eigneten sich dies indischen Waren gut für den Fernhandel. Bereits in der vorkolonialen Zeit wurden Textilien aus Indien weit über die Landesgrenzen hinaus gehandelt.

Ein entscheidender Punkt für die starke Stellung der indischen Anbieter auf dem globalen Markt war, dass sie bereits früh über eine gut aufgestellte Industrie mit einem breiten Produktangebot verfügten. Bevor andere Produzenten durch die Industrielle Revolution zu einer ernsthaften Konkurrenz wurden, konnten indische Händler ihr Warensortiment anbieten und Netzwerke etablieren.

Vor dem 15. Jahrhundert lässt sich der globale Textilmarkt grob in zwei Zonen einteilen. Die eine reicht vom Horn von Afrika nach Südostasien und Japan. Sie wurde von indischen Baumwollprodukten dominiert.

Die Zweite reichte von Europa nach Nord- und Südamerika. Die europäischen Waren wurden zumeist aus Wolle oder Kammgarngewebe hergestellt. Diese Materialien könnten der Grund sein, warum die europäische Ware nicht über Anatolien hinaus nach Asien verkauft werden konnten: im warmen Klima sind leichtere Stoffe angenehmer zu tragen. Ein weiterer Grund könnte die falsche Marketing-Strategie der Händler im Fernen Osten gewesen sein.

Aus diesem Grund konnte sich die indische Textilindustrie mit wenig Konkurrenz aus Europa entwickeln. Um 1700 produzierte Südasien ungefähr ein Viertel der weltweiten Textilien; der Anteil am globalen Handel ist noch höher einzuschätzen.

Der Handel mit indischen Textilien kann in drei unterschiedliche Kategorien unterteilt werden:

  • regionaler Handel
  • innerasiatischer Handel
  • Fernhandel nach Europa und Afrika

Die Händler der verschiedenen Kategorien mussten sich auf unterschiedliche Kundenwünsche und Wettbewerbssituationen einstellen.

Im Gebiet des Indischen Ozeans waren die indischen Waren dominant. Das lag nicht nur an den günstigen Preisen, sondern auch an den Eigenschaften der Produkte, wie zum Beispiel an den kräftigen Farben. Die waren vor allem in Südostasien beliebt. Dort legte man viel Wert auf gute Kleidung. Besucher im 16. Jahrhundert berichteten überrascht, dass mehr Geld in Kleidung und Körperschmuck floss als in Häuser.

Dennoch waren die Inder nicht in der Lage, die Konkurrenz komplett auszuschalten. Ab 1660 lässt sich in niederländischen Quellen ein Hinweis auf den Batik-Färbeprozess auf Java finden. Zum Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich, wahrscheinlich mithilfe von indischen Webern und chinesischen Händlern, eine javanische Textilindustrie, die in der Lage war, auf dem lokalen Markt, z. B. in Süd-Sumatra, indische Waren zu ersetzen. Bugi-Schiffe brachten die Waren sogar bis nach Kambodscha.

Allerdings waren diese Rückschläge für die Inder zu verkraften, der asiatische Markt war groß – nach Schätzungen wurde dort im Jahr 1820 59 Prozent des weltweiten Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet.

Der vorkoloniale Handel innerhalb Asiens unterschied sich von der späteren Zeit. Britisch-Indien war geprägt von Monopolismus und Protektionismus. Schiffe luden in Indien Textilien, brachten sie beispielsweise nach Indonesien und nahmen dort Gewürze auf. Zuvor war der Handel kleinteiliger. Kaufleute handelten mit einem breiten Sortiment an Produkten im asiatischen Raum: mit Textilien, Aromen, Medizin Farben, Gewürzen, Lebensmitteln, Holz, Edelsteinen, Metallen, Ornamenten, Pflanzen und Tierprodukten. Durch eine solche Strategie konnten Händler ihr Risiko minimieren.

Der Fernhandel nach Europa stieg zum Ende des 17. Jahrhunderts stark an. Die europäische Mode wandelte sich und Stoffe aus indischer Baumwolle und Seide wurden hochbegehrt. Auch die Aristokratie kleidete sich mit indischen Textilien und sogar die englische Königin wurde als Kundin vermeldet.

Dennoch darf die Wichtigkeit dieses Handels für die indische Textindustrie nicht überschätzt werden. Für die Zeit um 1750 wird der Anteil aller Exporte von Indien nach Europa auf einen Wert von 0,9 bis 3,8 Prozent am Bruttoinlandsprodukt geschätzt.

Die Region, die am meisten vom Europa-Handel profitierte, war Bengalen, das auf Luxusprodukte spezialisiert war. Zur Wende zum 18. Jahrhundert stammten 40 Prozent der von Engländern und Niederländern transportierten Waren von dort.

Moguln und Briten

Im 16. Jahrhundert veränderten einschneidende Ereignisse das politische und sozioökonomische Leben in Indien. Zum einen war da das Eintreffen der Europäer auf dem Subkontinent. Scheiterte Columbus noch mit seiner Suche nach einem Seeweg nach Indien, so waren die Portugiesen über die Ost-Route erfolgreicher, indem sie das Horn von Afrika umsegelten. 1510 eroberten sie Goa, das als Basis der Kolonie Estado da India diente.

Durch diese Verbindung mit den Portugiesen wurde Indien stärker in das globale Handelsnetzwerk einbezogen als die Großreiche des Vorderen Orients. Aufgrund des Handels mit den Europäern gelangte spanisches Silber in das Land, das ein Fundament der Steuererhebung in der nachfolgenden Zeit bildete und damit Anteil daran hatte, dass eine stärkere Zentralisierung der Reichsverwaltung möglich wurde.

Dies kam dem Mogulreich zugute. Es wurde im Jahr 1526 von dem Heerführer Babur (1483-1530) begründet, nachdem dieser einen militärischen Sieg über das Delhi-Sultanat erringen konnte und damit die Vormachtstellung in Nordindien übernahm.

Babur stammte aus Samarkand und führte seine Herkunft auf Timur und Dschingis Kahn zurück. Daher übernahm er einige Traditionen der Mongolen. Unter anderem wurde die Herrschaft nach den timuridischen Erbfolgegesetzen weitergereicht, die besagten, dass alle Söhne des Herrschers gleichberechtigtes Anrecht auf die Nachfolge hatten. Der älteste Sohn war bestenfalls ein primus inter pares und musste in der Lage sein, sich mit Gewalt gegen seine Konkurrenten durchzusetzen.

Diese Regelung führte zu regelmäßigen Machtkämpfen, die häufig schon vor dem Tod des Vaters ausbrachen. Besonders langwierig war der Kampf um den Thron zu Zeiten Aurangzebs. Er musste sich in einem zweijährigen Bruderkrieg durchsetzen.

Durch diese Kämpfe wurde gewährleistet, dass nur starke Herrscher den Thron bestiegen, doch wurde dadurch die Reichsverwaltung – zumindest vorübergehend – geschwächt.

Unter Akbar (1542-1605), der beinahe 50 Jahre regierte, breitete sich das Mogulreich stark aus. Im Norden kontrollierte er das gesamte Gebiet von Südafghanistan bis nach Bengalen, dazu Teile Zentralindiens. Durch erfolgreiche Verwaltungsreformen florierte die Wirtschaft und die Städte des Reiches erlebten einen Aufschwung.

Mogulreich unter Aurangzeb, 1707 (Wikimedia Commons)

Akbar zeichnete sich durch religiöse Toleranz aus. Er akzeptierte die Hindus und ihre Institutionen und integrierte ihre Fürsten in den Herrschaftsapparat. Im Gegensatz zu dem Delhi-Sultanat, das ebenfalls weite Teile Indiens vereinte, wirkte das Mogulreich unter Akbar nicht wie eine Fremdherrschaft, sondern wie ein gesamtindisches Reich.

Unter dem kriegerischen Herrscher Aurangzeb (1658-1707) konnte das Mogulreich seine größte Ausdehnung erreichen. Beinahe der gesamte Subkontinent stand unter seinem Einfluss, mit Ausnahme vom südlichen Zipfel und Sri Lanka.

Allerdings war das Reich weniger geeint als in den vorigen Zeiten. Aurangzeb war ein Anhänger des orthodoxen Islams und ließ sogar seine Brüder Dara Shokoh und Murad als Häretiker hinrichten, da sie den Hindus gegenüber zu aufgeschlossen waren. Da ein Großteil der Bevölkerung dem hinduistischen Glauben angehörte, verlor der Mogul ihre Unterstützung.

Immer wieder hatte Aurangzeb mit Aufständen zu kämpfen. Besonders die nicht enden wollenden Kämpfe gegen die Marathen wurden zu einem Problem. Die gut organisierten Marathen-Fürsten bauten ihre Macht besonders in den ländlichen Gegenden des Dekkan aus und Aurangzeb musste von Festung zu Festung ziehen, um Rebellionen niederzuschlagen.

Zu dieser Zeit begann bereits die englische Ostindienkompanie (EIC) in Indien Fuß zu fassen. 1619 richteten sie sich in Surat ein, das eine Zeit lang die wichtigste britische Basis im Lande war. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1661, gründeten sie zwei befestigte Niederlassungen in Madras und Bombay, sowie eine dritte im Jahr 1690 in Kalkutta. Diese Orte sollten das Fundament für die britische Kolonialisierung Indiens werden.

Neben den Briten waren auch andere europäische Mächte in Südasien aktiv: die Portugiesen hielten Goa, Daman und Diu, die Franzosen Pondicherry, Mahé, Chanernagore, Yanaon und Karikal. Doch aufgrund ihrer starken Seestreitmacht waren die Briten in der Lage, ihre Interessen durchzusetzen. Während des 18. Jahrhunderts kämpften sie drei Mal gegen die Franzosen, die nur bis 1750 gegenhalten konnten.

Ein Ereignis änderte die Verhältnisse in Indien langfristig. Zwischen den Nawab und der Ostindienkompanie brach ein Konflikt aus, der zu der Schlacht bei Plassey im Jahr 1757 führte, durch die sich die Briten die Vormachtstellung in Bengalen sicherten. Bengalen war die reichste Provinz des Mogulreiches. Anschließend begann die Ostindienkompanie den indischen Subkontinent Stück für Stück zu übernehmen.

Die EIC war keine einfache, private Handelsgesellschaft, sondern handelte wie eine staatliche Institution. Sie unterhielt Soldaten und setzte Steuern fest. Ein Teil der Einnahmen musste an die britische Regierung abgeführt werden.

1784 wurde sie schließlich unter die Aufsicht einer staatlichen, britischen Kontrollbehörde gestellt.

Nach Außen trat die Ostindienkompanie robust und erfolgreich auf. Sie konnte ihre indischen Geschäfte kontrollieren und die anderen Europäer zurückdrängen. Im Inneren gab es aber Probleme in der Verwaltung. Besonders die Korruption, die unter den Offiziellen grassierte, war schlecht einzudämmen.

Die Briten waren regelmäßig in Kriege und Konflikte verwickelt und vergrößerten ihr Territorium. 1818 führten sie siegreich den 3. Marathen-Krieg, von 1824 bis 1826 den 1. Burma-Krieg, von 1839 bis 1842 den 1. Afghanischen Krieg und 1843 wurde Sindh erobert. 1844 folgte eine Niederlage in der Provinz Gwalior. Doch die Gebietserweiterungen gingen trotz dieses Rückschlages weiter. Zwischen 1845 und 1849 wurden die beiden Sikh-Kriege geführt, die zur Annexion des Punjabs führten. Der 2. Burma-Krieg endete mit der Inbesitznahme des gesamten birmanischen Gebiets. Nagpur wurde 1853 eingenommen, Avadh und Ouhd im Jahr 1856.

Doch die Briten strebten nicht danach alle Provinzen zu erobern. Pragmatisch, ohne sinnlos Ressourcen zu verschwenden, wurden mit einigen regionalen Herrschern Abkommen geschlossen, die den Einheimischen formal Autonomie beließen, aber de facto mussten sie sich der EIC unterordnen. Diese Fürstentümer wurden als “princely states” bezeichnet.

Ungefähr 70 Prozent des gesamten indischen Subkontinents standen 1856 unter direkter oder indirekter Kontrolle der Briten.

Britisch-Indien (Wikimedia Commons, Kmusser)

Die Europäer besaßen durch ihre fortschrittliche Militärtechnik einen großen Vorteil gegenüber den Indern. Dennoch benötigten sie einheimische Hilfstruppen, um das große Gebiet absichern zu können. Diese mit Musketen bewaffneten indischen Soldaten wurden Sepoy genannt, nach dem persischen Begriff für ‚Soldat‘.

Einige von diesen waren an dem nach ihnen benannten Sepoy-Aufstand beteiligt, der die politische Lage des Subkontinents änderte. Am 10. Mai 1857 begann eine Rebellion der indischen Söldner gegen die Briten. Der Auslöser war das Gerücht, dass Patronen mit Schweine- und Rinderfett behandelt wurden. Da die Geschosse vor der Benutzung aufgebissen werden mussten, war dies für gläubige Inder eine Missachtung ihrer Glaubensgrundsätze. Denn für Muslime gelten Schweine als unrein und für Hindus Kühe als heilig, beides wichtige Gründe, Kontakt zu diesen Tierfetten zu meiden.

Allerdings kann die Rebellion nicht nur auf diese eine Ursache geschoben werden. Es gab es eine Vielzahl andere Gründe, warum die Soldaten Aufstande wagten: neben wirtschaftlichen und sozialen Gründen war es die Angst vor christlichen Missionierungsversuchen.

Die Rebellion breitete sich in weiten Teilen des Landes aus. Da ein Teil der britischen Regimenter aufgrund des Einsatzes in Persien nicht einsatzbereit war, waren wichtige strategische Ziele ungeschützt. Allerdings schlossen sich nicht alle Sepoy den Meuternden an. Viele von ihnen blieben den Europäern gegenüber loyal, gerade in den wichtigen Regionen. Das galt sowohl für die Truppen in Bombay und Madras, aber auch für drei Viertel der bengalischen Armee.

Es fehlte ein einheitliches Ziel bei den Rebellen und durch Plündereien verloren sie an Beistand in der Bevölkerung. Die Europäer hingegen griffen hart durch und konnte den Aufstand beenden.

In England hatte die Rebellion große Wellen geschlagen. Die britische Regierung sah die Ostindienkompanie in der Hauptverantwortung und nahm eine große Umstrukturierung vor. Durch den Government of India Act vom 2. August 1858 wurde Indien zur Kronkolonie und die EIC wurde zu einem reinen Handelsunternehmen zurückgestuft.

Es wurde der Posten des Staatssekretärs für Indien geschaffen, der die politische Verantwortung für die Kolonie trug und Mitglied im britischen Parlament war. Die letzte Entscheidungsgewalt lag damit in London. Vor Ort wurde ein Generalgouverneur eingesetzt, der von einem Exekutiv- und Legislativrat unterstützt wurde. Auf Provinzebene wurde ähnlich gearbeitet: die Provinzgouverneure wurden ebenfalls von Exekutiv- und Legislativräten unterstützt. Provinzen wurden in Distrikte unterteilt, die von Kommissaren geleitet wurden. Sie dienten oft als „Eintreiber“.

Die Ostindienkompanie hatte bereits Steuern ab 1765 eingetrieben, da das Mogulreich dazu nicht mehr in der Lage war. Die britische Regierung behielt dies bei und das Steuereintreiben gehörte zu den zentralen Punkten ihrer Indienpolitik. Allerdings fanden sich durchgehend Stimmen, die die Steuerlast kritisierten.

In die Wirtschaft griffen die Europäer nicht direkt ein, sie setzen auf private Unternehmen. Doch viele ihrer Handlungen beeinflussten die Ökonomie indirekt. So bauten sie ein modernes Eisenbahnnetz auf. 1910 besaß Indien das viertgrößte Streckennetz der Welt. Auch wenn der Truppentransport und der Handelsverkehr die Hauptgründe für den Bau dieser Infrastruktur waren, hatte dies eine Reihe weiterer sozio-ökonomischer Auswirkungen.

Die britische Politik wurde von den indischen Zeitgenossen ambivalent aufgenommen. R. C. Dutt, der als einer der ersten Inder im Dienst des Imperial Civil Service stand, schrieb ein Buch zur Wirtschaftsgeschichte des Landes. Dort klagte er über die Briten, dass sie die indische Textilindustrie unterdrückten. Sie nutzen indische Rohstoffe, um in England maschinell Textilprodukte zu erstellen, um sie dann wieder in Asien zu verkaufen. Auf der positiven Seite vermerkte er die gewachsene innere Sicherheit und die Einheit des Landes.

1885 wurde der indische Nationalkongress gegründet. Diese Institution war ein Schritt in Richtung Unabhängigkeit Indiens, doch in den ersten Jahren konnte von hier aus nur wenig Einfluss ausgeübt werden.

Mit dem 20. Jahrhundert wurde der indische Nationalismus stärker. Unterschiedliche Interessensgruppen kämpften für die Unabhängigkeit. Dazu gehörten Gandhi und seine Anhänger und die Muslim League. Regelmäßig gab es gewaltsame Zusammenstöße zwischen Indern und der Kolonialmacht. Beispielsweise als Reaktion auf die Teilung Bengalens im Jahr 1905 oder 1919 beim Amritsar-Massaker, bei dem 400 Inder ihr Leben verloren und mehr als 1000 verwundet wurden.

Mit einem Government of India Act wurde 1935 die Unabhängigkeit in Aussicht gestellt, doch erst nach dem 2. Weltkrieg wurde das Vorhaben in die Tat umgesetzt. Am 15. August 1947 übergaben die Briten die Macht an die lokalen Politiker. Zwei neue Staaten entstanden: Indien und Pakistan, das aus den muslimischen Regionen im Nordwesten und Nordosten Indiens bestand. Ostpakistan erkämpfte sich 1971 gegen Westpakistan die Unabhängigkeit und benannte sich in Bangladesch um.

Der Niedergang der indischen Textilindustrie

Gesamtwirtschaftliche Entwicklung

Bevor der Frage nachgegangen werden kann, was der Grund für den Niedergang der Textilindustrie gewesen sein könnte, muss zuerst geklärt werden, ob es den Niedergang überhaupt gab.

Gesamtwirtschaftlich gesehen scheint die Lage klar: vor dem Eintreffen der Briten war der Anteil der Inder an der globalen industriellen Produktion ähnlich hoch wie der der Europäer und nach ihrem Abzug 1947 ist der Anteil auf ein einen Bruchteil des vorigen Wertes geschrumpft. Besonders die nationalistischen Inder ziehen diese Entwicklung heran und führen sie auf schädigende Eingriffe der Briten zurück.

Diese Aussagen sind sehr allgemein gehalten und werden von vielen Wirtschaftshistorikern nicht geteilt. Anhand des konkreten Beispiels der Textindustrie zeigt sich, dass im Detail die Analyse kompliziert ist. Denn was ist genau unter Niedergang zu verstehen? Wie kann man ihn messen? Ist der Rückgang der produzierten Waren in absoluten Zahlen ausschlaggebend? Oder die Anzahl der Webstühle oder Arbeiter? Oder der umgesetzte Warenwert?

Hinzu kommt, dass die Entwicklungen je nach Teilbereich, Zeit und Region unterschiedlich verlaufen.

Um das ganze Bild der Entwicklung der indischen Textilindustrie zeichnen zu können, sollen zunächst allgemeine Einflüsse und Entwicklungen betrachtet werden. Anschließend folgt der Blick auf das Detail, auf die Veränderungen bei den unterschiedlichen Tätigkeiten der Textilproduktion.

Um für die Analyse einen groben zeitlichen Rahmen zu stecken, soll hier die Periodisierung nach David Clingingsmith verwendet werden. Er unterteilt die Zeit von 1700 bis 1913 in vier unterschiedliche Phasen der indischen Industrialisierung.

  • 1700 bis 1760: die Hochphase der indischen Textilindustrie
  • 1760 bis 1810: die Phase des rapiden Abstiegs
  • 1810 bis 1860: eine Phase des langsamen Niedergangs
  • 1860 bis 1913: langsame Re-Industrialisierung

Hier muss angemerkt werden, dass sich die Historiker bei dieser Einteilung nicht einig sind. Einige sehen beispielsweise einen Abstieg über vier Jahrhunderte hinweg. Doch die meisten sehen eine florierende Industrie in der frühen Neuzeit, besonders in der Zeitspanne von 1600 bis 1750, und eine Phase des Abstiegs im späteren 18. und 19. Jahrhundert. An dieser Stelle wurde das Clingingsmith-Modell gewählt, da es gut zu den wichtigsten Indikatoren der Textilindustrie passt.

Auch wenn die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgreich für die indische Textilindustrie gewertet werden konnte, waren bereits die ersten Probleme zu spüren. Das Mogulreich war im Zerfallen begriffen und durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen der neuen Mächte wurden die ökonomischen Abläufe gestört. Viele Spinnerinnen und Weber benötigten Geldvorschüsse, um Rohmaterialien erwerben zu können. Durch Kriege und Konflikte wurde dieses Zahlungssystem gestört. Es kam auch zu direkten Zerstörungen: beispielsweise beim Einfall der Marathen in Bengalen in den 1740er wurden gezielt Webstühle zerstört.

Die Gründe für die Deindustrialisierung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts sind vielfältig.

Es gab Veränderungen außerhalb des menschlichen Einflussbereichs, wie die stärkeren Auswirkungen von El Niño, der die Wassertemperatur vor Indien erhöhte und damit den Regenfall in der Monsunzeit beeinflusste. Die Folge war, dass es in Südasien häufiger Dürren gab, die Gesellschaft und Ökonomie zerrütteten. In der Phase von 1650 bis 1774 war die Anzahl der Düren mit 22 für indische Verhältnisse sehr niedrig. Von 1775 bis 1899 waren es dagegen 39.

In diesen Zeiten trafen Dürren Menschen hart. Viele starben und teilweise wurden Dörfer entvölkert. Zusätzlich erschwerte der steigende Nahrungsmittelpreis das Leben der Menschen und hatte Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft, da die Arbeiter mehr Geld benötigten.

Die Briten unternahmen wenig, um die Bevölkerung vor den Auswirkungen der Dürren zu schützen, obwohl der wachsende Welthandel und der wissenschaftliche Fortschritt Möglichkeiten geboten hätten. Der Historiker Tirthankar Roy sieht dahinter aber keine böse Absicht, sondern die schwache staatliche Verwaltung, die nicht in der Lage war, ärmere ländliche Gebiete vor derartigen Katastrophen zu schützen.

Die Wetterphänomene bedeuteten Härten für die Einwohner Südasiens. Doch es waren zeitlich und regional begrenzte Katastrophen. Daher lässt sich bei der Bevölkerung Indiens ein langfristiger Wachstumstrend aufzeigen. Beim Eintreffen der Ostindienkompanie waren es ca. 135 Millionen Einwohner, 1700 ca. 163 Millionen und 1820 ca. 209 Millionen. Anschließend folgte eine Phase mit stärkeren Wachstum, sodass nach dem Abzug der britischen Kolonialverwaltung im Jahr 1950 ca. 350 Millionen Menschen im Land lebten.

Entwicklung der indischen Bevölkerung

Eine größere Bevölkerung bedeutet ein größeres wirtschaftliches Potenzial. Das ist zwar nicht gleichzusetzen mit tatsächlicher wachsender Wirtschaftskraft, doch bietet es Chancen, da der lokale Markt für viele Waren wächst.

Am Beispiel der Textilindustrie lässt sich das ebenfalls sehen: in der schlechtesten Phase lag der Gesamtkonsum an Baumwollkleidung bei 5,1 sqare yard pro Kopf (1 yd² ≈ 0,84 m²) und 1840 bei 5,7 yd². Anschließend stieg der Wert stark an: 1860 waren es 8,0 yd² pro Kopf, 1900 10,9 yd², 1920 13,5 yd² und 1940 15,2².  Der Absatz verändert sich vor allem aufgrund der Preise. Wenn Produktions- und Transport-Kosten günstig sind, können günstige Endprodukte angeboten werden und die Kunden können sich viel leisten.

Diese konkreten Zahlen zeigen, dass sowohl Bevölkerungswachstum als auch individueller Konsum eine wichtige Rolle für die langfristige Entwicklung des Marktes darstellten.

Zurück in das späte 18. Jahrhundert: Ein weiteres Problem war mit den Briten verbunden. Es gab einen großen finanziellen Abfluss von Indien nach Europa. Indien exportierte in den Westen, ohne allerdings äquivalente Importgüter zu erhalten. In der Zeit von 1784 bis 1782 betrug die Bilanz 1.014.000 Pfund, 1782 bis 1792 waren es 477.000 Pfund und von 1808 bis 1815 nur noch 77.000 Pfund.

Mit den Erfolgen der Industriellen Revolution in England änderte sich die Situation weiter und Indien stand anderen Problemen gegenüber: der Deindustrialisierung-durch-Globalisierung-Hypothese zur Folge verursachte die schnell wachsende Produktivität in Europas Manufakturen und Fabriken einen Preisverfall bei den Waren. Hersteller, die nicht konkurrenzfähig waren, verschwanden vom Markt. Die indische Textilindustrie war durch diese Vorgänge unterschiedlich stark betroffen. Das wird später erläutert, wenn auf die einzelnen Produktionsabschnitte eingegangen wird.

Die Erholung in der vierten Phase lässt sich unter anderem durch die besseren klimatischen Bedingungen und technische Änderungen erklären. Die Inder setzten vermehrt auf moderne Technik und konnten dadurch den Vorsprung der Europäer verringern.

Produktion

Weiteren Aufschluss bringt eine Detailbetrachtung. Ein Blick auf die unterschiedlichen Bereiche der Textilproduktion bringt ein klareres Bild über die Lage.

Im ersten Teil der Arbeit wurde der Produktionsprozess in die drei Teilaspekte Garnherstellung, Kleidungsherstellung und Veredelung unterteilt.

In allen diesen Bereichen standen die indischen Hersteller mit Produzenten aus aller Welt in Konkurrenz. Aufgrund der britischen Kolonialherrschaft waren die Inder nicht in der Lage, ihre Wirtschaft mit protektionistischen Mitteln zu schützen. Denn die Konkurrenz waren hauptsächlich die Kolonialherren selbst, die dementsprechend offene Märkte bevorzugte. Für die indische Industrie bedeutete das, wenn Waren nicht über den Preis oder die Qualität bestehen konnten, verschwanden sie vom Markt.

Bei der Garnherstellung konnten die indischen Spinnerinnen mit den europäischen Preisen des maschinell erstellten Garns nicht mithalten. Sie hatten ein niedriges Einkommen und waren beim Rohstoffeinkauf Preisnehmer, sodass es kaum Sparmöglichkeiten gab.

Weber, die wenig Geld ausgeben wollten, kauften das günstige britische Material.

Allerdings war das europäische Material nicht überall in Indien gleich gut verfügbar. Weber in Industriezentren, nahe von Seehäfen oder Handelsstraßen, konnten maschinell erstelltes Garn in ausreichenden Maß kaufen, doch auf dem Lande nutzten die Produzenten weiter die einheimischen Produkte. Für besonders hochwertige Kleidung blieb indisches Garn aufgrund seiner Qualität ebenfalls einsetzbar.

Im 19. Jahrhundert entstanden in Indien ebenfalls Baumwollspinnereien, die mit Maschinen arbeiteten und das traditionelle Gewerbe verdrängten. Die erste Fabrik eröffnete 1817 oder 1818 in Kalkutta. 1880 gab es 58 Fabriken in Indien, die 40.000 Arbeiter beschäftigten und 1914 bereits 271 Anlagen mit 260.000 Beschäftigten.

Nach und nach wurde die traditionelle Spinnerin verdrängt. Sogar das hochwertige handgemachte Garn aus Dhaka kam unter Druck und bis zum späten 19. Jahrhundert stellten alle einheimischen Weber auf importiertes Garn um.

Indien verlor ein traditionelles Handwerk. Im Gegenzug konnte es aber eine große Baumwollspinnerei-Industrie aufbauen, die in der Zeit von 1860 bis 1930 die viertgrößte im weltweiten Vergleich war.

Im Bereich der Färberei gab es durch die Entdeckung synthetischer Farben ebenfalls eine Transformation. Ab dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts wurden die chemisch hergestellten Färbemittel in Europa eingesetzt und versetzten damit die Kleidungsproduzenten in die Lage, wettbewerbsfähige Waren in Massenproduktion herzustellen.

In Indien wurden die synthetischen Farben ebenfalls genutzt und stellte die einheimische Industrie vor Probleme. Das alte Wissen über die Anwendung von Farben, einst eine große Stärke der Inder, wurde zum Großteil irrelevant. Dafür wurde neues Know-how benötigt, dass erst aufgebaut werden musste. Agenten der Farbhersteller reisten durch das Land, um durch Demonstrationen die Arbeiter zu schulen, doch der Erfolg blieb begrenzt, da gerade kleine Anwender wenig Interesse an den Schulungen hatten. Dadurch gab es einen Verfall an Qualität im Bereich der Färberei.

Die Weber hatten verschiedene Optionen, um diesen Qualitätsverlust entgegenzuwirken. Sie konnten bereits rot gefärbtes Garn aus den Spinnereien erhalten, sie konnten den Fokus auf Webmuster anstatt auf Farben legen oder sie konnten weiterhin natürliche Farben nutzen.

Nicht nur Spinnen und Färben wurden mit der Zeit automatisiert, auch kleinere Tätigkeiten rund um die Textilverarbeitung veränderten sich. Das Baumwollpflücken, das Reinigen des Materials, das Schären von Kettfäden, der Transport – alle diese Arbeiten wandelten sich.

Beim Weben war die Situation ein wenig anders. Mit den elektrischen Webstühlen entstand eine starke Konkurrenz, doch Teile des traditionellen Handwerks konnten überlebten.

Die strukturellen Änderungen durch die Ostindienkompanie schränkten die Handelsmöglichkeiten der Weber ein. In Südindien litten sie unter weniger Möglichkeiten beim Aushandeln von Preisen. Für Westindien fehlen diese Daten, aber da dort eine größere Autonomie herrschte, sollten die Einschränkungen geringer gewesen sein.

Die Textilindustrie folgt diesem generellen Trend der Wirtschaft. Nach einer schnellen und einer langsamen Phase des Abstiegs wurde der Umschwung geschafft. Besonders am Anfang des 20. Jahrhundert konnte die Produktion gesteigert werden.

Ein Grund dafür waren der Anstieg der lokalen Nachfrage und der Rückgang der importierten Textilien ab 1900. Innerhalb von 40 Jahren reduzierte sich der Import von Kleidung von 2005 Mio. yd² auf 579 Mio. yd².

Aufgrund wandelnder Kundenwünsche änderte sich die indische Textilindustrie weiter. Während in vorigen Zeiten Stoffe gekauft und vom lokalen Schneider angepasst wurden, waren die Kunden nun bereit Konfektionsware zu konsumieren. Die traditionelle Variante verschwand nicht schnell und nicht komplett. Sogar heute ist es noch möglich, die traditionellen Stoffe zu erwerben.

Die Konfektionsware konnte einfach von modernen Webmaschinen Webmaschinen (engl. „power looms“) erstellt werden und das gute Eisenbahnnetz und die Urbanisation verringerten die Kosten für Arbeitsmigration. Große Fabriken wurden dadurch begünstigt. Die ländlichen Familienbetriebe der vergangenen Zeit waren nicht in der Lage, die technische Ausstattung zu erwerben, die eine moderne Produktion ermöglichten.

Handelszentren entstanden. Beispielsweise die Industrie in Varanasi wuchs extrem in den Jahren von 1881 bis 1961. Die Anzahl der Weber verfünffachte sich.

Zum Ende der Kolonialzeit erreichte die Produktionsmenge an Baumwollkleidungsstücken Rekordzahlen. 1939 wurden 426 Millionen Pfund in Garn oder äquivalenten Material verarbeitet. Damit wurde das Ergebnis von 1901 mehr als verdoppelt. Allerdings war dies nicht auf mehr Webstühle oder Arbeiter zurückzuführen, sondern auf die höhere Produktivität. Die Zahl an Webstühle nahm ungefähr um 10 Prozent auf 2 Millionen ab. Die Anzahl der Beschäftigten der Textilindustrie ist für 1939 nicht erfasst, doch bereits 1932 sank die Zahl von 3,3 Millionen auf 2.1 Millionen.

Regional gab es starke Verschiebungen. In Bengalen verringerte sich die Anzahl der Webstühle in den letzten Jahrzehnten der Kolonialzeit. Der Fokus lag hier beinahe komplett auf Handarbeit. Ganz im Gegensatz dazu war die Entwicklung im Großraum Bombay und Südindien. Dort nahmen sowohl Handarbeit wie auch maschinelle Fertigung stark zu.

Nach dem Abzug der Briten, im Jahre 1948, fanden sich noch viele Handwebstühle in Indien. Im Stadtgebiet Bombay standen neben 100 Webmaschinen noch 1000 Handwebstühle. In Malegaon, Bhiwandi und Surat, die als Hauptorte der Webmaschinen-Produktion zählten, waren jeweils mindestens 2.000 Handwebstühle vorhanden.

Im unabhängigen Indian sollte Handarbeit wieder gestärkt werden. Dies war im Geiste Gandhis, der jeden dazu animierte, nur handgewobene Kleidung zu tragen.

1950 wurde eine neue Verordnung zur Textilproduktion erlassen, die traditionelle Herstellungsverfahren stärken sollte. Die Ausweitung der Kapazitäten der Baumwollspinnereien wurde unterbunden, bestimmte Produkte durften nur noch in Handarbeit hergestellt werden und Webmaschinen waren nur bis zu einer bestimmten Kapazität erlaubt.

Zusätzlich wurde staatliches Geld in die traditionellen Hersteller investiert. Bei einem Zensus im Jahr 1987/88 wurden beinahe 4 Millionen Handwebstühle gemeldet, mehr als in den 1930er Jahren. Aber diese Zahlen sind nicht glaubwürdig. Wahrscheinlich ist, dass hier betrogen wurde, um Gelder zu erhalten oder um Webmaschinen als Handwebstühle zu tarnen.

1982/83 kam es zu weiteren großen Veränderungen. Durch den Textil-Streik in Bombay mit Fabrikschließungen und eine Serie von Insolvenzen in Ahmedabad, Kanpur und Madras nahm die Anzahl der Baumwollspinnereien schlagartig ab. Von dieser Änderung profitierten die Webmaschinen-Fabriken, die Arbeiten übernahmen.

Handel

Schaut man auf die absoluten Zahlen, dann sieht die Entwicklung der indischen Industrie wenig dramatisch aus. Wenn man jedoch auf ihren Anteil an der Weltproduktion blickt, scheint Indien im Vergleich zu den Europäern den Anschluss verloren zu haben. Allerdings ist dieses Verhältnis eine Folge des Aufstiegs der Industriestaaten und nicht des Niedergangs der indischen Industrie.

Die indische Textilindustrie bediente in erster Linie den einheimischen Markt und konnte, im Zeitalter des rasant wachsenden Welthandels, seinen Textilexport im Fernhandel nicht in den Maßen wie die europäischen Konkurrenten steigern.

Das lässt sich beispielsweise an den von Singapur aus verschifften Waren erkennen. Von hier wurden die Waren nach Malaysia, Siam und Cochinchina gesandt. Ursprünglich wurde dieser Markt von den Indern dominiert, doch im 19. Jahrhundert wurden sie von den Europäern, allen voran von den Briten, weit überholt. 1828/29 wurden in Singapur Waren im Gesamtwert von 861.286 Spanischen Dollar registriert. Davon waren es indische Waren im Wert von 616.510 Spanische Dollar. In den nachfolgenden Jahren vervielfältigte sich der Warenumsatz in Singapur. 1865/66 konnte ein Gesamtwert von 4.123.195 spanischen Dollar vermeldet werden. Davon waren nur noch 107.660 Spanische Dollar auf indische Textilien zurückzuführen. 97,4 % des Gesamtumsatzes wurden durch die Europäer abgewickelt.

Fazit

Seit dem 17. Jahrhundert erlebte Indien mehrere politische Umwälzungen und technische Revolutionen. Die indischen Nationalisten konnten den Niedergang der Textilindustrie für ihre Zwecke nutzen, da sie sich auf eine einfache Vorher/Nachher-Betrachtung fokussierten. Schaut man genauer auf die Datenlage, wird das Bild komplizierter.

Vor der Besitznahme Bengalens durch die englische Ostindienkompanie gehörte die indische Kleidungsindustrie zu den führenden in der Welt, doch die ersten Probleme waren aufgrund der politischen Probleme im Mogulstaat deutlich geworden.

Die Verwaltung durch die EIC und später durch die britische Regierung brachten sowohl positive als auch negative Aspekte mit sich. Sie verfolgten eigene Interessen im Land und schädigten es beispielsweise durch den Warenabfluss in Richtung Europa. Zu den positiven Einflüssen gehörte, dass durch den Aufbau der Infrastruktur, wie dem Bau der Eisenbahnstrecken, die Modernisierung der Industrie erleichtert wurde.

Ohne die britische Fremdherrschaft wäre das Instrumentarium zum Schutz der indischen Wirtschaft größer gewesen. Es hätten protektionistische Maßnahmen und Förderungen eingesetzt werden können.

Während der Zeit ihrer Herrschaft in Indien erlebte Britannien eine industrielle Revolution, die vor allem die Textilproduktion revolutionierte. Durch die hohen Produktionszahlen sank der Preis für Kleidung. Durch ihre Seemacht und die Kolonien waren die Briten in der Lage, diesen Vorteil in der Produktion strategisch auszunutzen und damit zum mit Abstand führenden Textilproduzenten zu werden.

Die indischen Hersteller mussten Wege finden, ihre Industrie ebenfalls moderner aufzustellen. Bestimmte Teilbereiche der Textilindustrie fielen den Innovationen zum Opfer oder waren einem vollständigen Wandel unterwerfen. Das Spinnen wurde automatisiert und die traditionellen Färbetechniken, in denen Indien führend war, wurden nahezu vollständig durch den Gebrauch von synthetischer Farbe ersetzt. Dadurch büßte die Kleidung ein Alleinstellungsmerkmal ein, das beispielsweise in Indonesien beliebt war.

Nachdem im 18. und 19. Jahrhundert lange Phasen des Niedergangs die Kleidungshersteller hart trafen, wurde ungefähr ab dem Jahr 1900 der Umschwung geschafft und die Produktion stieg steil an.

Die Erholung vollzog sich vor allem aufgrund des florierenden lokalen Marktes. Im Fernhandel, ob in Asien oder weltweit, konnten sich die Inder nicht durchsetzen.

Zum Ende der Kolonialzeit verfügte Indien über eine Industrie, die sowohl aus modernen Webmaschinen bestand, die Massenware herstellen konnte, als auch über eine große Zahl an Handwebstühlen.

Schaut man auf die absoluten Produktionszahlen hat die Textilindustrie im Verlaufe der britischen Besetzung an Stärke gewonnen. Doch relativ zur Weltproduktion gesehen, wurden die Inder von den Europäern abgehängt. Der Grund war der extreme Anstieg der westlichen Produktion, nicht der Abfall der indischen.

Traditionelles Weben 2022 am Barefoot College in Rajasthan.

Wäre die Entwicklung in Indien ohne die britische Herrschaft besser gewesen?  Mit Sicherheit ist das nicht zu sagen. Die technische Adaption hätte mit einer indischen Regierung schneller sein können, allerdings zeigen die ersten Jahre der Unabhängigkeit, dass dies nicht zwangsläufig so hätte sein müssen.

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